Auch wenn im europäischen Vergleich die österreichische Rechtspflege gut funktioniert, sind Schwachstellen aufzuzeigen. Die rechtsuchende Bevölkerung hat das Recht, dass ihre Anliegen so schnell und reibungslos wie möglich bearbeitet werden", forderte Rechtsanwalts-Präsident Dr. Gerhard Benn-Ibler im Rahmen eines Pressegespräches heute früh in Wien. Anlass war die Präsentation des 31. Wahrnehmungsberichtes, der die Mängel der Rechtspflege in der Praxis beleuchtet.
"Es kann nicht sein, dass ehrenamtlich tätige Rechtsanwälte als Referenten des Österreichischen Rechtsanwaltskammertages gerade eine Arbeitswoche zur Verfügung haben, um zu Gesetzesentwürfen Stellung zu nehmen. Beispielsweise traf die Tabakgesetznovelle am 20.10.2004 zur Begutachtung ein, das Ende der Frist war mit 29.10. 2004 festgesetzt. Genauso wenig kann es sein, dass wie zum Beispiel bei der Gewerbeordnungsnovelle nach Ende der Begutachtungsfrist neue Bestimmungen hinzugefügt werden. Und es kann auch nicht sein, dass Rechtsanwälte überhaupt nicht zur Begutachtung eingeladen werden, wie dies beim Entwurf des Bundesministeriums für Gesundheit und Frauen eines Patienten/ Patientinnenverfügungen-Gesetzes der Fall war. Eine derartige Ausschaltung des Begutachtungsrechtes ist rechtsstaatlich bedenklich", fasst Benn-Ibler den Themenkomplex zusammen.
2004 hatte der Österreichische Rechtsanwaltskammertag rund 150 Gesetzesentwürfe zu begutachten, darunter das Steuerreformgesetz, das Verbandsverantwortlichkeitsgesetz ("Unternehmensstrafrecht"), das Sozialbetrugsgesetz sowie die Zivilverfahrensnovelle 2004 und die Strafprozessnovelle 2005.
Mangelnde Rechtspflege in der Praxis
Gravierende Mängel zeigen die Rechtsanwälte bei der Verständlichkeit von Gesetzestexten auf. Texte, deren Erläuterung unzählige Seiten erfordern - wie etwa der zwanzigseitige mit mathematischen Formeln gespickte Erlass des Bundesministeriums für Finanzen zur verbindlichen Festsetzung von Erlebenswahrscheinlichkeiten (ErlWS-VO 2004 des BM für Finanzen) - sind für den Sachverständigen kaum nachzuvollziehen und für den Laien schlichtweg unzumutbar.
Kritisch äußert sich der Bericht zu Einschränkungen der anwaltlichen Vertretungsrechte. Beispielsweise beschränken kurzfristige Verfahrenshilfebestellungen diese. So berichtet ein Wiener Rechtsanwalt, dass er sieben Tage vor der Verhandlung zum Verfahrenshelfer eines portugiesischen Staatsbürgers bestellt wurde. Allerdings war es nicht möglich, in diesem Zeitraum einen sprachkundigen Gerichtsdolmetscher zu finden, eine Vertretung war demzufolge unmöglich. "Im Interesse des Beschuldigten müssen diese Vertretungsrechte gesichert sein", fordert der Rechtsanwaltspräsident.
Die ZPO Novelle 2003 hatte ein klares Ziel: kürzere Verfahren! In Zivilprozessen sollen vorbereitende Tagsatzungen Parteien und Gericht Gelegenheit geben, die Rechtsfragen und den Ablauf des Verfahrens zu erörtern. Es kommt allzu häufig vor, dass angereiste Parteien erst in der Verhandlung erfahren, dass ihre Vernehmung gar nicht geplant ist. Eine einfache Mitteilung könnte hier Zeit, Kosten und Ärger sparen.
Der Wahrnehmungsbericht zeigt aber auch positive Entwicklungen und mustergültige Beispiele auf, etwa Verhandlungen, bei denen das schriftliche Urteil binnen vier Tagen zugestellt wurde, oder Beispiele wie etwa das Bemühen einer Richterin, gleich zu Beginn einer Scheidungsverhandlung vier Termine zu fixieren, um das Scheidungsverfahren in einem kürzest möglichen Zeitraum abzuwickeln. Ebenfalls positiv wurde hervorgehoben, dass das Recht auf anwaltliche Vertretung für Verbrechensopfer durchgesetzt werden konnte, womit einer in den letzten Wahrnehmungsberichten erhobenen Forderung der Rechtsanwälte Rechnung getragen wurde.
Benn-Ibler: "Wir zeigen Schwachstellen in einem an sich hervorragend funktionierendem System auf, damit die Qualität auf hohem Niveau auch in Zukunft gesichert bleibt. Wir sind zuversichtlich, dass die verantwortlichen Stellen den Bericht zum Anlass nehmen, dort einzugreifen, wo Handlungsbedarf besteht!"
Der Wahrnehmungsbericht, der dem gesetzlichen Auftrag entsprechend heuer bereits zum 31. Mal erstellt wurde, wird heute dem Justizministerium und anderen relevanten Stellen übermittelt und ist ab sofort unter www.rechtsanwaelte.at öffentlich zugänglich.